Wieso wir in einer Welt unbegrenzter Möglichkeiten trotzdem immer weniger Entscheidungen treffen.

  • Wer hat den letzten Song ausgesucht, den Du gehört hast?
  • Wer hat die letzte Serie ausgesucht, die Du angeschaut hast?
  • Wer hat darüber entschieden, welcher Freundin Du zuletzt zugehört hast?

In meinem Fall lautet die Antwort: „Vielleicht ich, aber wahrscheinlich eher nicht.“

Wir bauen heute auf dem Konzept der Gewohnheitsschleifen auf. Auf English heißt das „Habit Loops“ und ich werde diesen verdaulicheren Begriff für diesen Artikel verwenden. Ich bin kein psychologischer Fachmann – nur ein BWLer, der mit einem psychologischen Mentalmodel versucht, etwas in der Welt zu verstehen.

Ein Habit Loop ist ein neurologischer Prozess, welcher den Ablauf eines Verhaltens/Aktivität steuert. Er besteht aus drei Komponenten.

  1. Signal (engl. “cue“): Startschuss für den Ablauf eines Verhaltens/Routine
  2. Gewohnheit/Verhalten (“routine“): Das Verhalten, welches vom Habit Loop Prozess gesteuert wird
  3. Belohnung („reward“): Abschluss des Habit Loops.

Das Konzept ist in seinen Grundzügen relativ bekannt. Die meisten Menschen werden wissen, dass Hunde „konditioniert“ werden, indem man ihnen ein Leckerli gibt, nachdem sie in die richtige Ecke ge******en haben.

Der Habit Loop Prozess ist evolutionär entstanden, weil das menschliche Gehirn darauf gepolt ist, Energie zu sparen. Das Konstrukt mit Signal und Belohnung dient der Automatisierung des Verhaltens in der Mitte des Prozesses. Alles was nicht bewusst gesteuert oder entschieden werden muss, will vom Hirn automatisiert werden, damit es Kapazität für neue Eindrücke und komplexe Berechnungen im „Bewusstsein“ hat.

Wichtig ist auch noch zu verstehen, dass das Gehirn nicht so richtig evaluiert, ob das zu automatisierende Verhalten langfristig schädlich oder zuträglich ist. Das Gehirn kann manchmal ein Handwerker sein, für das jedes Problem nach einem Nagel aussieht und es kann ziemlich hartnäckig dabei sein, etwas als Nagel zu evaluieren. Das macht Habit Loops zu einem potenten und mächtigen Instrument.

Ein paar Beispiele für Habit Loops:

  • Im Aufzug auf das Handy schauen
  • Fingernägel kauen
  • Etwas Süßes nach dem Mittagessen
  • Autofahrt ins Büro

Habit Loops im Alltag lassen sich oftmals gut daran erkennen, wenn man sich nicht ganz so genau an einen gewissen Handlungsstrang erinnern kann. Bspw. bei Autofahrten zum Büro oder Supermarkt, steigt man in das Auto ein und ist dann wie in Trance, bis man am Ziel angelangt ist.

Jetzt lass das Konzept sacken und denke einmal darüber nach, wie viel Zeit deines Tages von automatisierten Prozessen bestimmt ist und wie viele Entscheidungen du am Tag wirklich aus einer bewussten Überlegung heraus triffst, oder ob nicht schon vorher absehbar war, wie Du auf eine mögliche „Weggabelung“ reagieren würdest.

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Menschen sind voller Habit Loops, die langfristig schädlich sind und daher kann das Konzept ein wenig angsteinflößend sein. Wenn man bedenkt, dass Menschen „Signale“ und „Belohnungen“ auch instrumentalisieren können, um Verhaltensweisen zu „designen“, wird man vielleicht noch ein wenig besorgter. Aber in erster Linie sind Habit Loops ein überlebensnotwendiges Verhaltensmuster der Menschheit. Wenn sie als Werkzeug verwendet werden, hängt die Wirkung von der Intention des „Handwerkers“ ab.

Informatiker sind fähige „Handwerker“ und können Habit Loops für sich nutzen, um damit Systeme zu „designen“. Eine „Schleife“ ist eine der ersten Algorithmus-Gattungen, die man bei der beliebten Programmiersprache Python lernt. Es ist kein Wunder, dass die Produkte und Dienstleistungen der Tech-Industrie voller Habit Loop Implementierungen sind und diese einen großen Anteil an der schnellen Skalierung ihrer Geschäftsmodelle hatten.

Eine Betrachtung der Tech-Unternehmen Facebook, Spotify, Netflix und YouTube lässt uns schnell die praktische Anwendung des Habit Loop Models und den unternehmerischen Kampf um die Zeit und Aufmerksamkeit der Nutzer verstehen. Dieser Kampf dreht sich hauptsächlich um „Signale“ (Cues) und Zeit für die „Routinen“. Ein Tag hat eben nur 24 Stunden, um darin Verhaltensmuster ablaufen zu lassen, und die Anzahl der täglich verfügbaren Cues ist ebenfalls beschränkt. Es gibt diverse natürliche Cues wie beispielsweise das Aufstehen am Morgen, Beenden einer Mahlzeit oder von der Arbeit nach Hause zu kommen. All diese Momente sind Einfallstore für Habit Loops. Es gibt auch die Möglichkeit, künstliche Cues zu erzeugen, wobei dies vermutlich leichter geht, wenn man einen Nutzer schon in seiner Plattform gefangen hat.

Facebook spezialisiert sich auf Cues. Eine kleine Zahl in einem roten Kreis ist das trojanische Cue-Pferd des sozialen Netzwerks. Es suggeriert interessante Neuigkeiten, die den Nutzer dazu bringen, die App zu öffnen. Von dort wird man in die Timeline weitergeleitet, welche einen bequem und ohne Anstrengungen durch einen Informationsfluss gleiten lässt. In dieser „Routine“ ist unser Gehirn wenig aktiv und damit auch anfällig für neue Cues. Diese können bewusst gesetzt werden, um kommerzielle Absichten zu erreichen.

Spotify und Netflix spezialisieren sich auf „Routinen“. Die Plattformen sind darauf ausgelegt, uns möglichst lange in sich gefangen zu halten, damit wir keine Zeit mit anderen Aktivitäten verbringen. Nutzer werden so widerstandslos wie möglich von Inhalt zu Inhalt geleitet. Netflix spielt automatisch die nächste Folge und Spotify spielt weitere vom Algorithmus empfohlene Songs, sobald eine Playlist durchlaufen ist. YouTube hat ebenfalls für sich erkannt, dass das automatische Spielen von weiteren Videos Nutzer länger auf der Plattform hält.

Das ist meine Wahrnehmung. Wie man diese Entwicklung bewertet, ist ein anderes Thema. In einer Welt, in der Möglichkeiten und Optionalitäten sich kontinuierlich zu erweitern erscheinen, könnte es sein, dass zukünftig folgende Fähigkeiten seltener und wertvoller werden:

  1. Habit Loops erkennen
  2. Evaluierung wie ein Habit Loop entstanden ist und ob er möglicherweise von Dritten implementiert wurde
  3. Reflektion über die eigenen Präferenzen
  4. Evaluierung, ob der fragliche Habit Loop die eigenen Präferenzen adäquat bedient
  5. Treffen einer eigenen, bewussten Entscheidung.

Übrigens, das Opus Magnum des Habit Loops Engineerings sind und bleiben für mich Kartoffel Chips. Wer auf einen Chip beißt, empfindet Belohnung (salziger, würziger Geschmack) und Cue (man empfindet sofort das Bedürfnis, mehr zu konsumieren) gleichzeitig. Da kann Facebook noch eine Menge lernen.

So, jetzt aber erstmal Netflix und Chill…

 

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